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Ingenieure in der Gesellschaft
Über die Ethik und Verantwortung der Ingenieure
Von Wilfried Grunau, Präsident des ZBI
D er Philosoph Hans Jonas for- und Böse. Die Positionierung „Gut“ neigen dazu, genau diese binäre, klas-
sische Logik wieder und wieder zu
legt mitunter auch sehr emotional
derte einst: „Handle so, dass
die Wirkungen deiner Hand -
oder jenes. Beides kann nicht sein.
lung verträglich sind mit der Per - und bei weitem nicht immer fakten- reproduzieren. Entweder ist dies wahr
basiert fest, welche Meinung, welche
manenz echten menschlichen Lebens Stimmung, welche Welt präferiert Das widerspricht dem, was wir über
auf Erden.“ wird – im Gegensatz zu „Böse“, in viele Jahre an logischem Denkver -
das alles andere hineingepackt wird, mögen aufgebaut haben. So etwas
Mit diesem ethischen Imperativ ist der
was nicht ins momentane „gute“ hat über die Sozialisierung unseres
Anspruch an das Handeln der Inge -
Weltbild passt. Dieses moralische Denkens hinaus natürlich auch
nieu rin nen und Ingenieure sehr tref-
Spannungsfeld finden wir überall, in Ursachen, die in der uns umgebenden
fend formuliert. Bisher kam die
Welt liegen.
Technikethik als Reflexion über das
Verhalten des Menschen meist zu In Zukunft wird es daher von immer
spät. Zu oft fragte man, was wir dür- größerer Bedeutung sein, genau diese
fen, nachdem wir es konnten. Wir Grenzen zu überwinden und so die
sollten aber eigentlich wissen, was wir Voraussetzung zur Erweiterung und
dürfen, bevor wir es können. Ethik Gestaltung eigener Horizonte zu
darf also keine Krisenreflexion a schaffen. Infolge der verschiedenen
posteriori, sprich: im Nachgang sein, Wahrheitsgehalte des entweder-oder
sondern muss nach dem Jonas’schen stehen wir nun vor der Herausfor -
Prinzip Verantwortung eine Präven - derung, im jeweiligen Einzelfall zu
tivethik sein. prüfen, wie es darum bestellt ist.
Denn unsere Einschätzung, ob etwas
Aber sind die Ingenieure auch für un -
entweder richtig oder falsch, gut oder
absehbare Nebenfolgen ihrer Arbeit
böse ist, ob wir entweder dies oder
verantwortlich? Vielleicht, weil sie
das tun sollten, kann erhebliche
nicht alles so genau wussten? Darf
Konsequenzen haben für den Erfolg
man eventuelles Nichtwissen über-
unseres Handelns. Dies gilt auch und
haupt moralisieren? Wobei: Wissen
gerade im Zusammenhang mit den
oder Nichtwissen: Solche Unter -
vielfältigen Veränderungs-, Lern- und
scheidungen sind bekanntlich oft
Entwicklungsprozessen, die uns im
nicht ganz eindeutig, denn die alltäg- täglichen Leben wieder und wieder
liche Komplexität widerspricht klaren Dipl.-Ing. Wilfried Grunau ist Geodät und
seit 1993 Präsident des Verbandes Deut - begegnen.
Grenzziehungen. Vor allem in tages-
scher Vermessungsingenieure (VDV). Seit
aktuellen Entscheidungen werden Ja Wir leben in einer Zeit, in der die er -
2014 ist er zugleich Präsident des Zentral -
und Nein, Pro und Kontra sehr schnell verbandes der Ingenieurvereine (ZBI). Für folgreiche Zusammenarbeit von Men -
fluide – ein Ja zur Energiewende oder sein Engagement wurde er 2011 mit dem schen und Technologie zentral wird.
Nachhaltigkeit kann dann durchaus Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Um dies verantwortungsvoll zu errei-
auch zum „Ja, aber im Moment doch chen, können wir beispielsweise
lieber ein Kohle- oder Atomkraft - Technologie als einen Teil unserer
werk“ werden. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Gesellschaft ansehen und akzeptie-
Immer wird dabei ein klares „Wir ver- ren. Wir sind also eine Art technosozi-
Dem dänischen Philosophen Søren sus die anderen“ produziert und pro- ale Gesellschaft, in der die Grenzen
Kierkegaard wird folgendes Zitat pagiert. zwischen Technologie und sozialen
zugeschrieben: „Das Leben wird nur
Systemen verwischen.
rückwärts verstanden und muss vor- In Zeiten, in denen sich die gesell-
wärts gelebt werden.“ Eine mögliche schaftlichen Gräben weiter vertiefen Der Weg der technischen Evolution ist
Lösung liegt also beispielsweise im und ein striktes entweder-oder das irreversibel und kann nicht zurückfüh-
Perspektivwechsel, im Idealfall basie- Denken beherrscht, ist Hegels Philo - ren zur reinen Natur im Sinne von
rend auf reflektierten Beobachtungen so phie des Sowohl-als-auch so aktuell Rousseau. Der Technikphilosoph Hans
von Ja und Nein, oder auch von Gut wie nie zuvor. Die meisten von uns Sachse vermerkte 1972 dazu: „Wer
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